Dem Klienten wird hier die Möglichkeit gegeben, in dem durch den Sandkasten begrenzten Raum mit Figuren und durch das Gestalten des Sandes eine seinem inneren Zustand entsprechende Welt aufzubauen. Auf diese Weise werden im freien, kreativen Spiel unbewusste Vorgänge in einer dem Traumerlebnis vergleichbaren Bilderwelt in dreidimensionaler Form sichtbar gemacht. Durch eine so entstandene Reihe von Bildern wird der von C. G. Jung beschriebene Individuations-Prozess angeregt und zur Entfaltung gebracht.

dora kalff in therapieraum s

Der Prozess, der in der Analytischen Psychologie angestrebt wird und von Jung als Individuationsprozess beschrieben worden ist, kann als Prozess der Bewusstwerdung menschlicher Ganzheit verstanden werden. Mit Ganzheit ist eine Einstellung gemeint, die jenseits exklusiver Gegensätze steht und eine Vereinigung dieser Gegensätze anstrebt. Es ist die Ganzheitsstruktur, die dem Menschen von Geburt an zugrunde liegt, und die von Jung als das Selbst bezeichnet wurde.

Das Zentrum des Selbst festigt sich im Unbewussten des Kindes (um das dritte Lebensjahr herum) und beginnt sich in Symbolen der Ganzheit zu manifestieren. Das Kind spielt, zeichnet oder malt in einer Jahrtausendealten Symbolsprache, mit welcher der Mensch bewusst oder unbewusst, durch alle Zeiten hindurch, in allen Kulturen, seiner Ganzheit Ausdruck verliehen hat. Es ist dies eine tiefgehende Erfahrung, die oft in der Form eines Kreises oder Quadrates ihren Ausdruck findet und von einem Numinosum begleitet ist. So wird der Kreis nicht nur eine geometrische Form, sondern wird zum Symbol, das etwas unsichtbar im Menschen Lebendes ans Licht treten lässt. Symbole sprechen für innere energiegeladene Bilder, für Dispositionen des Menschseins, die, wenn sie sichtbar werden, die Entwicklung des Menschen immer wieder beeinflussen. Symbole numinosen oder religiösen Inhalts sprechen daher von einer inneren geistigen Ordnung, aus welcher das Ich sich gesund entwickeln kann, welches den Bezug zur äußeren Welt schafft.

Jung hat auf die Einheit von Außenwelt und Innenwelt hingewiesen. Oft wird nämlich durch die einseitige Anpassung an die Außenwelt mit der Maske der Persona die innere Welt des Unbewussten, die im gegengeschlechtlichen Seelenbild von Animus und Anima verkörpert ist, unterdrückt. Das Unbewusste enthält die überlieferten Energien vergangener kollektiver Erfahrungen, wie auch vergessene und verdrängte Erfahrungen des einzelnen Individuums. Der Mensch als Ganzheit verstanden muss fähig sein, fortwährend zwischen den Ansprüchen der Innenwelt und der Außenwelt zu vermitteln, wodurch er sich erst als echtes Individuum erweist, da er so weder willenloses Opfer unbewusster Inhalte noch überangepasstes Wesen in Bezug auf Gesellschaft und Welt ist.

Bei der Arbeit an sich selber, die durch das Sandspiel vollzogen wird, kann sich die relativierende Begegnung des Ichs mit den Kräften des Selbst als numinose Erfahrung auswirken, die häufig in religiösen Symbolen ihren Ausdruck findet. Ein anderer Aspekt der Ganzheit, auf den im Sandspiel besonderes Gewicht gelegt wird, ist die Ganzheit von Körper und Geist. In seinem negativen Aspekt erscheint der Geist als exklusiver Intellekt, der jede Verbindung mit dem Gefühl und dem Körper verloren hat. Diese Verbindungslosigkeit drückt sich in der Verachtung des Gefühls als etwas Unklarem und in der Anschauung aus, dass der Körper primitiv und ungeistig sei. Diese für den modernen Menschen allzu häufige Einstellung ist oft Ursache psychischer Störungen. Erst dann, wenn sich der Intellekt als ein Element unter anderen der Gesamtperson verstehen gelernt hat, findet der Klient zum Sinn und zur Bedeutung des Lebens zurück. Symbolisch drückt sich die wiedergefundene Ganzheit in Mandala artigen Formen aus.

Das Sandspiel ist eine Methode, die sowohl mit Kindern als auch mit Erwachsenen angewendet werden kann, um an die Inhalte des Unbewussten heranzukommen. Beim Sandspiel wird sofort deutlich, dass der Mensch dann, wenn er spielt, seiner Ganzheit nahe kommt. Es wird möglich, die verengende Perspektive unserer festgefahrenen Vorstellungen und Ängste zu durchbrechen und im Spiel einen neuen Bezug zur eigenen Tiefe zu finden. Vertieft ins Spiel gelingt das Sichtbarmachen eines inneren Bildes. So wird ein Bezug von Innen und Außen hergestellt.

Der Sandkasten entspricht in seiner Ausdehnung dem Blickfeld. In diesem Raum wird die ins Grenzenlose strebende Phantasie geformt und gestaltet. Wir können sagen, dass Phantasie nur dort fruchtbar wird, wo sie gezwungen ist, sich in bestimmten Formen auszudrücken. Es ergibt sich daraus die Polarität Freiheit – Beschränkung. Die Freiheit besteht einmal darin, dass dem Klienten zur Gestaltung fast keine Grenzen gesetzt sind. Er hat die Möglichkeit, aus der Vielfalt von Figuren diejenigen zu wählen oder dazu zu konstruieren, die ihm ermöglichen, die Welt, die ihm am nächsten liegt, darzustellen. Es gelingt so dem Klienten, die ihm unbewusste Problematik darzustellen. Wir beobachten nun, dass ein Prozess in Gang gerät, in welchem die unbewusste und verborgene Ganzheit die Führung übernimmt. Dort, wo der Mensch mit dem Spiel beginnt, unterwirft er sich dem Gesetz desselben, welches ihn zur Vereinigung der Gegensätze führt, die eben für das Spiel das entscheidende Merkmal ist. Das Spiel ist Mittler von Unsichtbarem und Sichtbarem.

Eine weitere wichtige Polarität im Sandspiel ist diejenige von Körper und Psyche. Das Bild wird physisch im Sand gestaltet, so dass wir sagen können, dass innere Inhalte eine körperliche Form finden. Zudem erfahren wir, dass die Gestaltung zu einem tiefen, emotional empfundenen Erlebnis werden kann, wenn die Manifestation einer Ganzheit sich durchsetzt, deren schönster Ausdruck das Mandala ist. Vorbedingungen für die Entfaltung innerer Kräfte ist unter anderem das, was ich als den freien und geschützten Raum bezeichnet habe. Es ist die Aufgabe des Therapeuten, einen solchen zu konstellieren. Ein freier Raum, in welchem sich der Klient völlig frei und angenommen fühlt. Geschützt dadurch, dass der Sandspieltherapeut die Grenzen der Klienten erkennt. Er wird zur Vertrauensperson. Die negativen oder destruktiven Tendenzen werden auf diese Weise nicht unterdrückt, sie werden dargestellt und transformiert.

Der analytische Prozess mit dem Sandspiel verläuft in Gestaltungen des Unbewussten, von Inhalten, die ihren Ausdruck in Symbolen finden. Meistens spiegelt das erste Bild eine Situation wieder, die noch näher bei der Bewusstseinsebene liegt, aber doch schon Hinweise auf die Problematik enthält. Verschiedentlich können wir anhand eines ersten Bildes schon wichtige Anzeichen dafür finden, wie und in welche Richtung die Lösung des inneren Konfliktes führen könnte. Weitere Bilder führen aus der Vor- und Alleinherrschaft der Bewusstseinsebene in tiefere Schichten im Menschen mit unbewussten Inhalten. Diese Bilder haben oft chaotischen Charakter und zeugen von ungebändigten Energien. Schließlich dringt der Patient mit seinen Bildern vor in das, was wir als Ausdruck der Ganzheit, oder in Jungscher Terminologie als das Selbst bezeichnen können.

Damit wird eine psychische Situation des In-sich-Ruhens geschaffen, die oft ein numinoses Erlebnis bewirkt und den Kontakt mit dem Geistigen schafft. Diese Erfahrung ist die Basis zu einer ersten Transformation der Energien. In den Sandbildern zeigt sich diese zuerst auf einer primitiven körperlichen Ebene. Themen der Pflanzen- und Tierwelt treten auf. Wasser und Erde sind im Vordergrund. Ich nenne diese Phase der Entwicklung deshalb die vegetativ animale, die Begegnung mit den untersten Schichten im Körper. In diesem Moment findet auch die Begegnung mit dem noch im Unbewussten verharrenden komplementär-geschlechtlichen Seelenbild statt, das heißt im Mann mit einer weiblichen kreativen Seite und einer männlichen Logos-Seite in der Frau. Es sind dies neue schöpferische Kräfte, die sich durchzusetzen beginnen. Die Erkenntnis derselben führt zu einer Auseinandersetzung mit ihnen und auf einer weiteren Stufe zu einer Transformation dieser Energien. Dunkle Kräfte werden in lichte, konstruktive verwandelt und mit Hilfe der erwachenden Kreativität geben sie dem Leben eine neue Richtung. Die im Sand ausgedrückte Ganzheit muss jetzt im Lebensganzen ihren Ausdruck finden.

Zusammenfassend können wir sagen, dass die Ganzheit von Ich, Selbst, Körper und Geist angestrebt wird und ihren Ausdruck im Grundsatz darin findet, dass Energien nicht verdrängt, sondern transformiert werden.

Aus dieser Beschreibung eines möglichen Ablaufes einer inneren Entwicklung können wir erkennen, dass die heilende Erfahrung gerade daraus entsteht, dass der Klient sich auf die Dynamik der inneren Bilder einlässt und diesen gestalterischen Ausdruck gibt.

Die Erfahrung zeigt, dass eine Besprechung oder ausführliche Interpretation der Sandspiele die Fähigkeit des Klienten hemmen kann, sich für das offen zu halten, was noch auf einer vorverbalen Ebene nach spontanem Ausdruck verlangt. Für den Prozess der Heilung und Selbsterkenntnis ist es aber von entscheidender Bedeutung, mit den noch unbewussten Seiten in sich selber Kontakt aufzunehmen. Auch diese Art der Erfahrung kann als Form der Bewusstmachung unbewusster Inhalte angesehen werden, allerdings nicht auf der verbalen Ebene sondern auf der Ebene der Gestaltung und Erfahrung von Bildinhalten. Die innere Erfahrung dieser Bildinhalte geht häufig den Veränderungen im äußern Bereich des Lebens voraus, bildet aber eine wichtige innere Voraussetzung für die Veränderung und für neue Verhaltensweisen auf der äußeren Ebene.

Es ist aber wichtig, dass der Therapeut oder Berater die Symbolsprache der Bilder richtig versteht und von diesem Verständnis her innerlich den Prozess mitverfolgt und unter Umständen, ohne auf das Sandspiel hinzuweisen, Verbindungen zur äußeren Lebenssituation herstellt und mögliche Problempunkte aufgreift. Es kann für den Verlauf der Arbeit entscheidend sein, eine eventuelle Übertragungsproblematik, die sich symbolisch im Sandspiel ausdrückt, zu erkennen und entsprechend darauf zu reagieren. Um fähig zu sein, die Sandspielarbeit auszuüben, müssen die Therapeuten oder Berater neben seiner psychologischen Ausbildung vor allem zwei Voraussetzungen erfüllen können:

  1. Da der Sandspielprozess sich in einer symbolischen Sprache ausdrückt, ist eine vertiefte Kenntnis der Symbolsprache, wie sie sich in Religionen, Mythen, Märchen, Literatur und Kunst etc. ausdrückt, unerlässlich. Gemeint ist hier vor allem die von C. G. Jung entwickelte tiefenpsychologische Symboldeutung. Vor allem ist wichtig, dass man diese Symbole und ihre Wirksamkeit anhand des eigenen psychischen Reifungsprozesses erlebt hat (Symbolarbeit). Nur dieses Erleben ermöglicht es, die Klienten in ihrer Erfahrung wirksam zu begleiten.

  2. Auf der anderen Seite muss der Therapeut/Berater, wie wir bereits gesehen haben, die Fähigkeit besitzen, einen freien und geschützten Raum zu konstellieren. Was wir für andere vermitteln wollen, sollte aus der eigenen Erfahrung her kommen. Dies bedeutet, dass er/sie eine Offenheit besitzen sollte, die aus der Begegnung mit den eigenen dunklen und unbekannten Seiten gewachsen ist. Gleichzeitig ist aber auch eine Erfahrung der eigenen tieferliegenden positiven Potentiale wichtig, die eine innere Sicherheit gewährleistet, die dann auch befähigt, für andere einen geschützten Raum zu schaffen.

Für eine erfolgreiche Arbeit ist schließlich eine positive Motivation entscheidend, eine Motivation, die sich zum Ziele setzt, für den Klienten einen Raum zu schaffen, der es ihm/ihr ermöglicht auf selbständige Weise seiner/ihrer Ganzheit nahe zu kommen. Diese Absicht sollte mit einem Streben verbunden sein, die eigene Fähigkeit, auf eine echte und uneigennützige Art zu helfen, durch fortgesetzte Arbeit an sich selber zu vertiefen.

(Quelle: Zeitschrift Sandspiel-Therapie, Heft 19, 2005)